SYRIENS KAMPF
FÜR DEMOKRATIE
UND FREIHEIT
Kann eine neue Verfassung das Land
vor dem Chaos retten?
Von Marianne Brückl
Augsburg, 09.10.2012 (mb) – Der Kampf
für Demokratie und Menschenrechte in Syrien
ist zum Desaster für alle Ethnien und
Minderheiten geworden. Das Assad-
Regime bekämpft mit unvorstellbarer
Grausamkeit nicht nur die Rebellen, sondern
wendet sich auch gegen unschuldige
Zivilisten. Issa Hanna, 2. Vorsitzender der
Assyrischen Demokratischen Organisation
(ADO), Sektion Europa, hat in einem Interview
Stellung zur aktuellen Lage und
den Problemen in Syrien genommen.
Brückl: Herr Hanna, Sie sind der 2. Vorsitzende
der Assyrischen Demokratischen
Organisation, Sektion Europa, und daher
auch bestens vertraut mit der Lage Ihrer
Landsleute in Syrien. Können Sie mir zuerst
etwas was über die christlichen Assyrer
im Land sagen?
Hanna: In Syrien leben derzeit ca. 3 Mio.
Christen als eigenständige indigene Religions-
und Volksgruppen, darunter kulturelle
und nationale Minderheiten, zu denen
auch die aramäisch-sprachigen christlichen
Assyrer zählen. Sie bilden dort eine
ethnische Minderheit mit eigener Sprache,
Literatur, politischen und kulturellen Organisationen.
Die Assyrer sind seit über drei Jahrtausende
in Mesopotamien bzw. Syrien vertreten
und haben bereits im ersten Jahrhundert
n. Chr. das Christentum angenommen
und die christliche Kultur weitergetragen.
Sie gehören den folgenden Kirchen an:
Der Alten Assyrischen Kirche des Ostens,
der Syrisch-orthodoxen Kirche, der Katholisch-
chaldäischen Kirche, im weiteren
Sinne auch der Griechisch-melkitischen orthodoxen
Kirche, der Syrisch katholischen,
der Griechisch-melkitisch katholischen
Kirche, der Syrisch evangelischen
und der Syrisch katholischen.
Obwohl Syrien seit dem Altertum ein Teil
der historischen Heimat der Assyrer ist
(der Name Syrien leitet sich aus dem
Reichsnamen Assyrien her), wurden sie in
der Arabischen Republik Syrien, die erst
seit 1946 existiert, nur als religiöse bzw.
konfessionelle Gruppe anerkannt, was auf
den aggressiven arabischen Nationalismus
zurückzuführen ist, der zwar allgemeine
Religionsfreiheit garantiert hat, jedoch
keine andere Ethnie oder Nation anerkannte.
Brückl: Was darf man sich nun unter der
Assyrischen Demokratischen Organisation
genau vorstellen?
Hanna: Die ADO wurde am 15. Juli 1957
in der Heimat Syrien, in Qamishli, gegründet.
Die Entstehung des Nationalbewusstseins
am Anfang des 20. Jahrhunderts, war
das Ergebnis zweier wichtiger Faktoren:
Zum einen das Erwachen eines Nationalbewusstseins
unter unseren eigenen Gelehrten,
wie Naoum Faik, Ashur Youssef,
Freidun Nouzha, mit ihren klaren Zukunftsvisionen
und Einsichten, die sie zur
assyrischen nationalen Frage hatten, und
zum zweiten die historische Tragödie, die
unser Volk im Laufe seiner langen Geschichte
erlitten hat, die im 20. Jahrhundert
während des ersten Weltkrieges im
Völkermord und der anschließenden Vertreibung
ihren Höhepunkt erlebte. Diesen
Genozid bezeichnen wir mit dem syroaramäischen
Begriff “Seyfo“, was so viel
bedeutet wie „Schwert“-, worunter die
erlittenen Massaker, Verfolgungen und
Vertreibungen zu verstehen sind.
Aus diesen gemeinsamen historischen Erfahrungen
entwickelte sich bei den Assyrern
der Nationalgedanke, woraus die
Notwendigkeit entstand, eine Organisation
ins Leben zu rufen, die sich für die nationale
Zukunft und die Belange unseres Volkes
einsetzen kann.
Brückl: Welche Ziele verfolgt die ADO?
Hanna: Die Assyrisch-Demokratische Organisation
ist eine nationale, politische
und demokratische Bewegung, die den
Schutz der Existenz des Assyrischen Volkes
und die Verwirklichung seiner legitimen
nationalen Bestrebungen wie seine vollen
politischen, kulturellen und administrativen
Rechte in seinem historischen Heimatland
zum Ziel hat. Wir möchten die verfassungsmäßige
Anerkennung als indigene
nationale Volksgruppe in einem pluralistischen
Syrien erreichen. Dies ist heute umso
mehr geboten, als die aktuellen Entwicklungen
im gesamten Nahen Osten die
ohnehin schon prekäre Situation und dringende
Not der Assyrer in ihren Heimatländern
aufgrund von Repressionen und
Mordanschlägen durch fundamentalistische
islamische Gruppierungen noch verschärft
haben.
Die ADO ist der festen Überzeugung, dass
die Demokratie mit allem, was sie an Gerechtigkeit,
Freiheit und Gleichheit gewährleistet,
das beste System für den Aufbau
zivilisierter Gesellschaften darstellt.
Ebenso ist sie der festen Überzeugung,
dass die Frauen das Recht zur Ausübung
aller ihrer politischen, kulturellen, sozialen
und wirtschaftlichen Rechte besitzen.
Des weiteren besitzt das assyrische Volk
nach unserer Auffassung das uneingeschränkte
Recht, in das Territorium zurückzukehren,
aus dem es infolge des Völkermordes
mit seinem Massaker zum Exil
gezwungen wurde, um seine Vermögenswerte
und Ländereien zurück zu gewinnen,
die ihm entrissen wurden, und zwar unter
internationalem Schutz und internationaler
Kontrolle.
Brückl: Was macht die ADO konkret, um
all diese gesetzten Ziele und geforderten
Rechte in die Tat umzusetzen?
Hanna: Bereits 2005 war die Assyrisch-
Demokratische Organisation Teil der sogenannten
Gruppe der „Damaskus-
Erklärung“, die zum Ziel hatte, die syrische
Opposition zu vereinen, und die Reformen
und Demokratie forderte.
Um diese Rechte durchzusetzen, sind die
Assyrer daher auch sehr stark in der Opposition
engagiert. So ist die Assyrisch
Demokratische Organisation als christliche
Gruppe auch Gründungsmitglied des
im November 2011 gegründeten Syrischen
Nationalrates (SNC). Ziel des SNC ist es,
eine neue Verfassung zu schaffen, die allen
Komponenten der syrischen Gesellschaft,
also Arabern, Kurden, Assyrern, Turkmenen
und anderen, Gleichbehandlung garantiert,
ungeachtet ihrer religiösen, ethnischen
oder nationalen Herkunft. D.h. Anerkennung
der gleichen Rechte aller im
Zusammenhang mit Syriens territorialer
und demographischer Integrität und Einheit.
Im Nationalen Abkommen für ein
Neues Syrien vom 27. März 2012 hat der
Syrische Nationalrat diese Ziele auch klar
definiert.
[„Die Verfassung garantiert Gleichbehandlung
zwischen jeglichen religiösen,
ethnischen oder nationalen Komponenten
der syrischen Gesellschaft – Arabern,
Kurden, Assyrern, Turkmenen und anderen.
Sie wird gleiche Rechte für Alle im
Zusammenhang mit Syriens territorialer
und demographischer Integrität und Einheit
anerkennen.“]
Brückl: Wo liegen Ihre größten Bedenken
im Hinblick auf eine Lösung zur Gleichstellung
aller syrischen Bürger?
Hanna: Die Demokratie und Stabilität des
neuen Syrien werden nur in dem Maße zu
verwirklichen sein, als das Land sich in
der Lage erweisen wird, die Existenz und
die Rechte seiner Minderheiten durch ausdrückliche
Verankerung in der neuen Verfassung
zu garantieren, diese angestrebten
verfassungsmäßigen Rechte durch klar
definierte effektive Mechanismen in aller
Gerechtigkeit in die Praxis umzusetzen und
zu schützen und die Minderheiten mit ihren
kulturellen Reichtümern einschließlich
ihrer Sprachen und ihrer spezifischen,
konstruktiven Beiträge zur syrischen Gesellschaft
im Geiste eines friedlichen, harmonischen
und gerechten gesamtgesellschaftlichen
Zusammenwirkens praktisch
zu fördern.
Die Christen im Land wünschen sich eine
säkulare Regierung, die sich aus säkularen
Kräften zusammensetzt.
Brückl: Sehen Sie eine Chance, einen Konsens
zwischen den verschiedenen Ethnien
und Glaubensgemeinschaften zu erreichen
und wie könnte dieser realisiert werden?
Hanna: Dadurch, dass Syrien ein Vielvölkerstaat
ist, der sich aus zahlreichen Ethnien
mit religiöser und kultureller Vielfalt
zusammensetzt und auch Mehrsprachigkeit
herrscht, dürfte dieser Konsens kaum ein
Problem sein. Diese Vielfalt stellt eine Bereicherung
für den Staat dar.
Brückl: Die assyrischen Christen in Syrien
geraten, wie in anderen Regionen des Nahen
Ostens, z. B. im Irak, zunehmend in
Gefahr, ausgerottet zu werden. Was müsste
geschehen, um einer solchen Entwicklung
entgegenzuwirken?
Hanna: In den letzten Monaten mussten in
der Stadt Homs und anderen Städten in
Syrien über 15.000 assyrische Familien
ihre Häuser verlassen, um in den Nachbarstaaten
Libanon, Türkei, Jordanien, Irak
oder in ihre ehemaligen Heimatdörfer zu
Verwandten fliehen.
In Syrien nimmt im Gegensatz zum Irak die
Gewalt und die Anarchie täglich zu und die
Verbrechen an den Christen machen das
Leben dort unerträglich.
Wir erwarten daher von unseren Politikern
hier in Europa, dass sie sich jetzt noch
intensiver als bisher für die Christen in
Syrien einsetzen und ihnen mehr Solidarität,
aber auch tatkräftige Hilfe zukommen
lassen. Im Wesentlichen geht es hier nicht
nur um moralische, sondern auch um politische
Unterstützung, um der christlichen
Bevölkerung in Syrien Sicherheit und Halt
zu geben, damit sie in Zukunft eine stärkere
Rolle in der Gesellschaft des Landes
einnehmen kann.
Brückl: Welche Rolle spielen die westlichen
Mainstream-Medien hierbei?
Hanna: Die Politiker im Westen müssen
sich für die Christen jetzt besonders einsetzen,
das war leider bisher nicht der Fall,
wenn man die Beiträge der führenden Medien
analysiert. Im Gegenteil wurden die
Christen in vielen Beiträgen der westlichen
Medien bezichtigt, insgesamt das Assad-
Regime unterstützt zu haben. Das ist so
nicht zutreffend. Die Christen haben, wie
alle anderen Bevölkerungsteile, unter der
Herrschaft des Assad-Regimes gelitten. Sie
sind nicht für Assad, sondern sorgen sich
lediglich um ihre Sicherheit und ihre Zukunft.
Brückl: Wer trägt Ihrer Meinung nach die
Hauptverantwortung für die eskalierende
Situation im Land?
Hanna: Um Ihre Frage beantworten zu
können, ist zuerst einmal die Betrachtung
des Gesamtbildes in Syrien notwendig:
Seit nahezu fünf Jahrzehnten leidet das
Land unter strukturellen Krisen, so im politischen,
wirtschaftlichen, kulturellen und
vor allem Bereich der Menschenrechte.
Ursache hierfür ist die Tatsache, dass alle
Bereiche bislang von einem nicht nur autoritären,
sondern totalitären Regime beherrscht
wurden, das sämtliche Aspekte
des Lebens, der Machtstrukturen, Ressourcen
und der Wohlstandsverteilung monopolisiert
und aggressiv kontrolliert hat. Auf
diese Weise hat das Regime den Menschen
alle bürgerlichen Freiheiten und Rechte
vorenthalten und so den Zugang zu jeglicher
Teilnahme am politischen Leben verhindert,
die Grundvoraussetzung für eine
demokratische Gesellschaft darstellt. Dadurch
wurden sämtliche Wege zu Fortschritt
und Entwicklung des Landes blockiert.
Brückl: Welche Einflüsse und Strömungen
sind im Moment die gefährlichsten, die
einen Frieden im Land verhindern?
Hanna: Militärische Angriffe von ausländischen
Staaten verschärfen die Situation
für die Christen, was schließlich eine Auswanderungswelle
der Assyrer zur Folge
hat. Dadurch entsteht noch mehr Chaos im
Land. Zudem haben die Fundamentalisten
noch mehr Möglichkeiten, Eskalation zu
verursachen und immer mehr Raum zu
gewinnen, was sie zu ihrem Vorteil ausnutzen.
Je länger diese Situation also noch andauert,
desto komplizierter wird die Lage für
die christliche Bevölkerung.
Brückl: Wie könnte man diese Strömungen
eliminieren und wer hätte hier die größte
Macht, diese einzudämmen.
Hanna: Wenn der 6-Punkte-Plan von Kofi
Annan von dessen Nachfolger Brahimi
übernommen wird und darüber hinaus
ernsthaft von beiden Seiten verwirklicht
wird, kann man das Land Syrien vor dem
Chaos retten. Und man kann eine stabile
Übergangsregierung einsetzen und dann
langsam den Staat in allen Bereichen praktisch
sanieren. Das wäre im Interesse aller
Großmächte, aber die Lösung wird nicht
einfach sein.
Ich würde dafür plädieren, dass der 6-
Punkte-Plan ernst genommen wird, dann
kann ein Chaos im Land verhindert werden.
Brückl: Glauben Sie, dass demokratische
Wahlen, wie sie in Ägypten stattgefunden
haben und letztendlich noch mehr Elend
der christlichen Bevölkerung verursacht
haben, in Syrien eine Verbesserung der
Situation der Christen zur Folge hätte?
Hanna: In jedem Fall ist die Situation in
Syrien anders zu bewerten, als in Ägypten.
Die Menschen in Syrien sind anders von
ihrer Mentalität. In Syrien haben seit
Jahrhunderten Christen und Muslime
friedlich miteinander gelebt, und man bekam
diesen Fundamentalismus sehr wenig
zu spüren. Ich glaube, wenn diese Möglichkeiten
vorhanden sind, dann werden
wir Syrien anders erleben. Syrien ist ein
Vielvölkerstaat, Syrien ist mehrsprachig,
es können dort die verschiedenen Muttersprachen
gesprochen werden. Das ist eine
Bereicherung für das Land. Deshalb gibt
es für Syrien bessere Chancen, bessere
Aussichten als in Ägypten.
Brückl: In welchen Bereichen ist die westliche
Gesellschaft am Intensivsten gefordert,
gegen diese Entwicklungen einer
vollkommenen Vertreibung der Christen
aus ihrer ursprünglichen Heimat einzugreifen?
Wie sollte sich dieses Eingreifen
praktisch darstellen?
Hanna: Die westlichen Länder sollen sich
mit den Christen solidarisieren, um auf die
Lage der in Bedrängnis geratenen Christen
aufmerksam zu machen, auch durch konkrete
Unterstützung an Ort und Stelle,
nicht nur wirtschaftlich sondern auch politisch.
Brückl: Halten Sie es für die richtige Lösung,
mehr und mehr christliche Flüchtlinge
in Europa aufzunehmen, oder gibt es
Ihrer Meinung nach eine andere Möglichkeit
zur Rettung der christlichen Bevölkerung
im Land selbst?
Hanna: Wir als Assyrisch-Demokratische
Organisation wünschen uns, dass wir es
schaffen, unsere Landsleute an Ort und
Stelle zu unterstützen und ihnen zu helfen,
dass sie dort in der Heimat in Frieden
bleiben und leben können. Aber wenn der
eine oder andere das Land verlassen hat,
ist es auch menschlich, humanitär, dass
das Gastland diese Menschen auch aufnehmen
soll. Aber auch die Schicksale der
Menschen sollten dabei berücksichtigt
werden und eine Aufnahme ermöglichen.
Brückl: Glauben Sie, dass die Kämpfe an
der Grenze zwischen Syrien und der Türkei
sich zu einem Flächenbrand ausweiten
werden?
Hanna: Es ist nicht das erste Mal, dass
auch die Nachbarländer mit in die Kämpfe
hineingezogen wurden. Man denke an den
Libanon, der ja auch eine Zeit lang betroffen
war.
Die Türkei hat sicherlich durch den Flugzeugabschuss,
der zuerst stattfand, versucht,
ihre Position auszubauen und Syrien
in ihren Einflussbereich zu ziehen. Ich
denke, dass dies ein Test für die Türkei und
die NATO war, festzustellen, über welche
Waffen Syrien verfügt. Die aktuellen
Kämpfe an der Grenze sind aber „kleine
Vorfälle“ im Vergleich zu den Ereignissen
in Syrien selbst.
Brückl: Was wird die Assyrisch Demokratische
Organisation weiter unternehmen,
um den Christen in der Heimat Hilfestellung
zu geben?
Hanna: Wir versuchen wie möglich, diese
Problematik bekannt zu machen, über die
tatsächliche Situation zu informieren, und
wir versuchen auch von hier, jede sachliche
Information sowohl an die Regierungen,
Menschenrechtsorganisationen als
auch an die Medien weiterzugeben, dass
eine richtige Verbreitung gewährleistet ist.
Zur Situation in Syrien finden daher auch
zahlreiche Konferenzen statt. Gerade die
italienische Regierung ist sehr engagiert,
gemeinsam mit dem Syrischen Nationalrat
Lösungen für die Konflikte zu erarbeiten.
Die letzte fand am 20. September 2012 in
Rom statt. Hier legte die ADO der Rom-
Konferenz ein entsprechendes Papier vor,
in dem sie klar ihren Forderungen, Zielen
und Möglichkeiten Nachdruck verliehen
hat. Diese Konferenzen stellen auch ein
wesentliches Instrument dar, um mehr
Druck auf das Assad-Regime auszuüben.
Brückl: Was wünschen Sie sich persönlich
für die Zukunft Syriens am meisten?
Hanna: Ich wünsche mir, dass in Syrien
Freiheit und Gerechtigkeit herrscht unter
der Bevölkerung und dass alle gemeinsam
das Land als einen gesunden Staat wieder
neu aufbauen. Auch ist mein Wunsch, dass
Syrien als Land im Nahen Osten wieder
eine große Rolle spielt.
Brückl: Ich bedanke mich sehr herzlich für
dieses umfassende Interview!